27. April bis 16. Juni 2024
*ALTEFABRIK
PAGE #2: MIRROR MIRROR ON THE WALL
ALEXANDER HAHN, ANDREA FORTMANN, ANNA STÜDELI, LAURIE DE JESÚS LAGARES, MICHAEL RAY-VON, MICHEL WINTERBERG, NOEMI PFISTER
Die Ausstellung beleuchtet verschiedene Möglichkeiten des Nachahmens und Kopierens in Anlehnung an das Leitmotiv des Parasiten, der sich genauso von bestehenden Inhalten ernährt. Seit jeher zitieren Künstler:innen Ideen und Formen der Gegenwart und Vergangenheit. Sie schöpfen bis heute aus dem Fundus bestehender Themen und Motive, die sie aufgrund ihrer Aussagekraft und ihren Impulsen neu verbildlichen und damit aktualisieren. Unser Verhältnis zur Nachahmung ist jedoch einem ständigen Wandel unterworfen: Zunächst galt das Kopieren als gängige Praxis der künstlerischen Ausbildung, später wurde es mitunter verurteilt als Diebstahl oder Plagiat. Spätestens seit der Moderne arbeiten Künstler:innen allerdings bewusst mit Reproduktionen, Zitaten und vorhandenem Material, um Wechselwirkungen zwischen Original und Imitation, zwischen individuellem Ausdruck und kollektiver Identität kritisch zu hinterfragen.
Wir treffen auf analoge wie digitale Bildträger, die sich als Spiegel unserer gelebten Erfahrungen, verinnerlichten Wünsche und Zukunftsvisionen zeigen. Während sich die Malerei eher auf ein unmittelbares Abbild unserer Welt konzentriert, widmen sich neuere Technologien einer fiktiven Erweiterung der Gegenwart. In der Ausstellung geben beide Vorgehensweisen dabei ihre Eigenheiten, ihr Entstehen und somit ihr eigenes Bild-Sein preis. Sie machen uns bewusst, wie Bilder produziert werden, welche Rolle ihre Materialität spielt und wie dies unsere Wahrnehmung beeinflusst. Sie schaffen alternative, gleichermassen kritische wie humorvolle Realitäten, die jenseits unserer tatsächlich gelebten Wirklichkeit liegen.
Der Ausstellungstitel – «Spieglein, Spieglein an der Wand» – spielt auf das bekannte Märchenmotiv des Zauberspiegels an. Hier ist Spiegel jedoch nicht nur ein Moment der optischen und gedanklichen Reflexion, sondern auch eine Möglichkeit des Perspektivenwechsels, um uns selbst und unsere Umgebung neu zu betrachten.
Alexander Hahn
Als Tizian, der venezianische Hitkünstler der Renaissance, «Der Untergang der Armee des Pharao im Roten Meer» schuf, war der Holzschnitt aufgrund des grossen Formates bereits eine Ausnahme. Die zwölf einzelnen Tafeln wurden direkt an der Wand gezeigt, anstatt in einem Album oder Buch wie sonst für Arbeiten auf Papier üblich. Genauso übernimmt Alexander Hahn (geboren in Rapperswil, lebt und arbeitet in New York) die Grafiken: Auch seine Fassung gibt eine Szene aus dem Alten Testament wieder, welche Moses auf der sicheren Uferseite zeigt, das geteilte Meer mit erhobenem Stab schliessend, sodass das stürmische Gewässer das Heer des Pharaos schluckt. Unter dem drohenden Himmel zeigt sich am Horizont jedoch die Skyline New Yorks mitsamt Wolkenkratzer und Brooklyn Bridge. Einer Erinnerung gleich, brennen sich die Linien dank der Lasergravur im Papier ein, sodass die Farb- und Oberflächenwirkung der Arbeit jener von Tizian bewusst nahe kommt.
Dass sich Geschichte(n) scheinbar endlos wiederholen, hat bereits Friedrich Nietzsche mit dem Konzept der «Ewigen Wiederkehr» aufgegriffen: Der deutsche Philosoph fasst das gesamte Dasein in endlos wiederkehrende Zyklen, sodass sich das Universum und unsere gesamte Existenz in einer selbstähnlichen Form unendlich wiederholt. Dieser Gedanke mag aufgrund seiner Unausweichlichkeit bedrückend oder zugleich befreiend sein. Angesichts aktueller Krisen und Kriege hallt Nietzsches Konzept jedoch besonders nach.
Andrea Fortmann
Das blaue Raster mit den unscharfen Bildausschnitten von Ampeln, Autos, Strassen und Zebrastreifen schiebt sich meist kurz vor dem Abschicken eines Internetformulars dazwischen. Sogenannte CAPTCHAs (dt. «Vollständig automatisierter öffentlicher Turing-Test zur Unterscheidung von Computern und Menschen») haben als Türsteher:innen des Internets die Funktion sicherzustellen, dass Menschen und nicht Maschinen bestimmte Web-Dienste nutzen. Mittels Puzzleaufgaben unterscheiden CAPTCHAs zwischen klickender Person und künstlicher Intelligenz. Mittlerweile haben die irritierenden Tests ihren ursprünglichen Zweck jedoch verloren. Sie dienen nun dazu, menschliches Verhalten und die Weise, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen, zu studieren und zu erlernen. Mittlerweile imitiert uns der Computer gar perfekter, als wir uns tatsächlich verhalten.
Andrea Fortmann (aufgewachsen in Solothurn, lebt und arbeitet in Luzern) interessiert sich für Leer- und Fehlstellen sowie Doppelungen und Rahmungen. Dabei ist die Mehrdeutigkeit, mit der wir verschiedenen (Bedienungs-)Oberflächen körperlich begegnen, immer Teil ihrer Überlegungen. Seit 2020 führt die Künstlerin ein Archiv mit Texten, welches hier eine physische, sich wiederholende Form annimmt. Die unterschiedlichen Glasobjekte bitten jedoch nicht darum, Szenen aus dem Strassenverkehr herauszufiltern, sondern fordern uns dazu auf, unsere unmittelbare Umgebung durch die blauen Quadrate – durch neun Sucher – genauer zu reflektieren.
Noemi Pfister
Auf der Suche nach Formen der Gemeinschaft, in denen der eigene Lebensrhythmus einen Platz findet, umreisst der französische Philosoph und Schriftsteller Roland Barthes eine spezifische Vision des Zusammenlebens. Im Begriff «Idiorrhythmie» fand Barthes ein Konzept, das die beiden nebeneinander existierenden Bewegungen von Gemeinschaft und Individuum bestehen lässt, ihre Vielfalt anerkennt und als Befreiung von starren Konventionen erfährt. So können wir uns einem vorgegebenen Tempo oder einer kollektiven Norm entziehen und stattdessen unserem eigenen Rhythmus und unseren eigenen Ritualen folgen. Trotz individueller Selbstbestimmung fügen wir uns letztlich doch alle zu einer harmonischen Gruppe.
Noemi Pfister (geboren in Locarno, lebt und arbeitet in Basel) scheint diese «Vergemeinschaftung der Distanzen», die Barthes beschreibt, als zwiespältigen Zustand besonders in Gruppenporträts aufzugreifen. In ihren Arbeiten findet oft ein Kollektiv ungleicher Kreaturen zueinander, die kaum miteinander interagieren. Dazu verbindet Pfister verschiedene Elemente aus der Vergangenheit und dem Jetzt. Sie führt vor Augen, dass sich die zeitgenössische Malerei fortwährend auf bestehende Bilder bezieht und damit auf ihre eigene Geschichte verweist. Die Künstlerin spielt mit Hommagen, klassischen Genres und unserem kollektiven Gedächtnis. Mal mit wissenschaftlichem Interesse, mal mit einem unbefangenen Augenzwinkern lässt sie unterschiedliche Figuren, Formate und Techniken in ihren Bildwelten koexistieren.
Anna Stüdeli
Unendlich viele Bilder und Botschaften ziehen sich durch den öffentlichen Raum. Die urbane Landschaft tritt nahezu überall als buchstäbliche Werbetafel unseres kapitalistischen Wirtschaftssystem auf. Trotz dieser Vielgestaltigkeit sind beispielsweise Posterformate oder Werbetafeln stark reguliert und standardisiert – im Namen der Effizienz, des Schutzes vor Vandalismus und des grösstmöglichen Werbeeinflusses. Die Gestaltung und Nutzung des öffentlichen Raumes sind somit stark normiert. Doch innerhalb dieses Regelwerks gibt es Spielräume, die alternative Visionen für eine inklusive und lebendige Öffentlichkeit umarmen.
Genau diese komplexen Wirkungsfelder des öffentlichen Raumes dienen Anna Stüdeli (aufgewachsen in Solothurn, lebt und arbeitet in Hamburg) als Ausgangspunkt. Ihre Arbeiten nehmen sich oftmals Werbungen und Plakaten an, die sich dem Lauf der Dinge – Zerstörung, Witterung und Interaktionen mit Passant:innen – ergeben haben. Sie hält die Situationen fotografisch fest und bringt sie in neuen Schichtungen auf Bildträger wie offizielle Posterrahmen von Werbeagenturen oder Dachträger mit Baustellenästhetik. Die Künstlerin eignet sich so Motiven und Situationen aus dem öffentlichen Raum an, die sich normalerweise uns aneignen.
Michel Winterberg
Das Tamagotchi ist ein virtuelles Haustier in Form eines kleinen elektronischen Geräts, das in den 1990er Jahren in Japan entwickelt wurde. Zusammengesetzt aus den beiden japanischen Begriffen «tamago» (Ei) und «ucchi» (Haustier), geht das Tamagotchi über das blosse Spielen hinaus. Es soll den Nutzer:innen gleichzeitig wichtige Lektionen über Verantwortung, Pflege und Mitgefühl vermitteln. Denn Vernachlässigung des Tamagotchis kann letztlich zu seinem Tod führen, der jedoch dank der Reset-Funktion völlig konsequenzfrei ist. Diese spielerische Form von «digital care» lässt sich generell auf den digitalen Raum übertragen, da sich dort ebenso die Frage nach Fürsorge und Verantwortung im Umgang mit digitalen Inhalten und Technologien stellt. Nicht zuletzt tragen digitale Betreuungsaktivitäten wie Datenschutz und Sicherheit dazu bei, den digitalen Raum verantwortungsbewusst zu gestalten. Doch wer genau trägt kümmert sich und fühlt sich verantwortlich?
Michel Winterberg (geboren in Basel, lebt und arbeitet ebenda) beschäftigt sich mit interaktiven Video- und Klanginstallationen sowie computer-animierten Elementen. Dabei interessiert er sich besonders für das Wechselspiel zwischen Materialität, Medialität und Mensch. Farbig blinkend und um Aufmerksamkeit buhlend, reagiert der kleine, gefederte Bildschirm auf unsere Anwesenheit: piepsend, leuchtend und mit direkten Aufforderungen. Der verkabelte Vogel zeigt sich einerseits als virtuelles Tierchen und gleichzeitig als reaktives Unterhaltungsspiel.
Michael Ray-Von
Parallaxe beschreiben die vermeintliche Verschiebung der Position eines Objekts, wenn es aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird. Dieses Phänomen tritt aufgrund der unterschiedlichen Blickrichtungen auf, die zwei Beobachter:innen haben, wenn sie sich relativ zu einem Objekt bewegen. In der Astronomie finden Parallaxe beispielsweise Verwendung, um die Entfernungen zu Sternen zu berechnen, indem die scheinbare Verschiebung eines Sterns am Himmel beobachtet wird, wenn die Erde sich um die Sonne bewegt. Dem Altgriechischen für «Veränderung» oder «Hin- und Herbewegen» entlehnt, erhalten Parallaxe im Kontext der bildenden Kunst eine metaphorische Dimension: Wahrnehmung ist subjektiv und immer von unserem individuellen Standpunkt und Kontext abhängig.
Durch zwei verspiegelte Rahmen, deren Titel auf das Phänomen der Parallaxe anspielen, nehmen wir bei näherer Betrachtung die Umrisse eines fotografischen Bildes wahr. Ohne Kontext und Möglichkeit, sich dem gerahmten Inhalt richtig zu nähern, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, unseren Blickwinkel so zu ändern, dass wir deutlichen zwischen Spiegelbild und Fotografie unterscheiden können. Michael Ray-Von (aufgewachsen in Los Angeles, lebt und arbeitet in Basel) hinterfragt Darstellungskonventionen und Sehgewohnheiten. Die nimmt der Künstler auch für die scheinbar einfach Geste des braun schimmernden Paketklebebands zum Ausgangspunkt. Die einzelnen Strahlen spielen auf die Unmöglichkeit der Darstellung von Licht an, die oftmals mittels vereinfachten Linien wiedergegeben werden.
Laurie De Jesús Lagares
Als Hurrikan Maria im September 2017 auf Puerto Rico und benachbarte Inseln traf, sorgte der Sturm für eine verheerende humanitäre Krise: monatelangen Stromausfälle, enorme Regenmassen, grossflächige Überschwemmungen und folglich massgebliche Zerstörung. Die Medien trugen dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die Notlage zu lenken und den Druck auf die lokale und föderale Regierung zu erhöhen, um effektivere Hilfsmassnahmen zu ergreifen. Mehr als 91% der Mobilfunkmasten waren zeitweise ausser Betrieb, sodass die direkte Berichterstattung im Ausland manchmal besser funktionierte als für die Bewohner:innen Puerto Ricos selber.
Diesen Umstand nimmt Laurie De Jesús Lagares (geboren in Ponce, Puerto Rico, lebt und arbeitet ebenda) direkt in ihrer Malerei auf. Die drei Bildschirme geben Szenen aus den Nachrichten wieder, welche die Künstlerin während ihres Studiums an der Hochschule für Kunst und Gestaltung in Basel einzig über ihr Smartphone mitverfolgen konnte. Trotz der Distanz zu ihrer Heimat war sie so den Geschehnissen oftmals näher als ihre eigene, vom Hurrikan betroffene Familie vor Ort. Dieser Widerspruch des direkten und indirekten Erlebens, von Nähe und Distanz, Fremdsein und Vertrautheit veranschaulicht die Künstlerin mittels der Doppelung der beiden vorhandenen Bildträger – mit dem Bildschirm und der Leinwand.
Saalplan zur Ausstellung
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Die Ausstellung wird unterstützt von: Stadt Rapperswil-Jona, Kulturförderung Kanton St. Gallen | Swisslos, Ortsgemeinde Rapperswil-Jona, Asuera Stiftung, Ernst und Olga Gubler-Hablützel Stiftung, Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung und Stiftung Temperatio.
Fotos: Gina Folly