24. Februar bis 1. April 2024
*ALTEFABRIK
PAGE #1: TELLING TIME
JIAJIA ZHANG, JUDITH KAKON, MONIKA EMMANUELLE KAZI
«Das ist die Zeit. Bekannt und vertraut. Unaufhaltsam zieht sie uns mit sich fort. Im reissenden Fluss der vergehenden Sekunden, Stunden und Jahre stürzen wir dem Leben und dann dem Nichts entgegen… Wie die Fische im Wasser schwimmen wir in der Zeit. Unser Sein ist eines in der Zeit. Ihre Elegie gibt uns Nahrung, eröffnet uns die Welt, verwirrt uns, erschreckt uns, wiegt uns in den Schlaf. Im Schlepptau der Zeit und nach der Ordnung der Zeit entfaltet sich das Universum in seinem Werden.»
Carlo Rovelli, Die Ordnung der Zeit
Obwohl wir dem unentwegten Fluss der Zeit unterworfen sind, stimmt unsere Wahrnehmung dessen nicht immer mit den tatsächlichen physikalischen Gesetzmässigkeiten überein. Zeit funktioniert anders, als wir sie erfahren. Wir erleben sie als eine lineare Abfolge von Momenten und zugleich als etwas, das sich – je nach Situation und Umgebung – unterschiedlich anfühlt. Diese Vieldeutigkeit spiegelt sich gleichermassen in unserer Beziehung zum Raum wider: Obwohl sich Raum und Zeit als unabhängige Entitäten betrachten lassen, formt Raum oft unsere Wahrnehmung von Zeit (und Zeit wiederum unser Verständnis von Raum). Beide lassen sich in unserer vernetzten Welt nicht isolieren, sondern agieren als sich ständig bewegende Prozesse, geprägt vom Zusammenspiel sozialer, kultureller und politischer Konstruktionen. Die sich beschleunigenden globalen Ströme von Kapital, Informationen und Menschen haben letztlich nicht nur ökologische Auswirkungen, sondern fordern unser Verständnis von Raum und Zeit auf transnationaler Ebene heraus. Genau deswegen scheint es umso dringlicher, unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit weiter zu hinterfragen, um darin existierende Machtverhältnisse und Hierarchien besser zu verstehen, um umfassendere und inklusivere Perspektiven zu entwickeln, die für alle zugänglich und bedeutungsvoll sind.
Mittels verschiedener Installationen und filmischen Arbeiten nähern sich Jiajia Zhang, Judith Kakon und Monika Emmanuelle Kazi diesem breiten Möglichkeitsspektrum von Raum und Zeit an. Sie lenken unsere Aufmerksamkeit auf Alltagssituationen und Momente, die uns alle umgeben. Ihre Konzentration auf deren Eigenheiten und Zwiespältigkeit reflektiert und durchleuchtet diese vermeintlich selbstverständlichen Dinge jedoch aufs Neue. Indem sie Raum und Zeit spür- und (er)zählbar machen, ermutigen sie uns, mit einem frischen Blick auf unsere geteilte Öffentlichkeit zuzugehen.
Jiajia Zhang
Die Arbeiten von Jiajia Zhang konzentrieren sich auf das Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Raum. Unter anderem geprägt von der Omnipräsenz sozialer Medien, Werbung und verschiedener Displays, bieten ihre Werke einen Einblick in die ambivalente Beziehung von Individualität und Vernetzung. Sie beleuchten die Vielschichtigkeit zeitgenössischer Medien und deren digitale wie physische Verortung. Die drei Filmarbeiten in der Ausstellung bewegen sich im urbanen Raum und fokussieren sich auf jene Momente, in denen kleinere und grössere Glitches, Zwischenräume und Irritationen durch die Tonspur aufflackern. Als wiederkehrendes Element taucht in den Arbeiten Licht in unterschiedlichen Formen auf: im Stadtraum gefilmte Leuchtreklamen, defekte Bildschirme, Haushaltslampen und Strassenbeleuchtungen. Immer wieder lässt sich eine Form mehrdeutiger Zeitlichkeit ablesen, die über die konventionelle Funktion dieser Lichtquellen hinausgeht und als Orientierungshilfe im Raum operiert: als wegweisende Lichtpunkte durch die Ausstellung oder als unkonventionelles Uhrwerk, das den Tagesrhythmus einer Betreuungsperson mit neugeborenem Kind verbildlicht.
Geboren in Hefei, China, lebt und arbeitet Jiajia Zhang heute in Zürich.
Judith Kakon
Die Trennung zwischen dem, was wir als Öffentlichkeit und privaten Raum wahrnehmen, ist zunehmend durchlässig und entzieht sich einer klaren Definition. Wie der öffentliche Raum mit all seinen Bildern und Spuren in unser Bewusstsein dringt, ist kaum mehr nachvollziehbar. Judith Kakon überführt Objekte unserer gewohnten Umgebung mit all ihren vielschichtigen Bedeutungsebenen in den Ausstellungsraum und greift die widersprüchlichen Gegebenheiten sozialer Gesetze und Bildsysteme auf. So agiert sie als Beobachterin und Kommentatorin ebendieser Wechselwirkungen und rückt die Komplexität und Vielfalt menschlicher Erfahrungen in den Vordergrund. Die Künstlerin versetzt lokale Weihnachtsbeleuchtung aus Rapperswil-Jona auf modularen Stahlgerüsten in einen artifiziellen Lagerzustand, sodass wir den unterschiedlichen Lichterketten in ihrer unspektakulären Materialität entgegentreten. Sie begegnen uns entmystifiziert, aber dennoch aufgeladen in ihrer ganzen Symbolik und Ambivalenz als stromsaugendes Sinnbild des christlichen Glaubens.
Geboren in Basel, Schweiz, lebt und arbeitet Judith Kakon zurzeit ebenda.
Monika Emmanuelle Kazi
Monika Emmanuelle Kazi untersucht die gefühlsbestimmte Grundlage alltäglicher Gegenstände und Gesten, die als poröse Kontaktzonen und Spuren sich bewegender Erzählungen erscheinen. Ausgehend von einem körperlichen Gedächtnis, das eng mit ihrer Erfahrung der Diaspora verbunden ist, verwebt sie persönliche Erinnerungen mit öffentlichem Archiv- und Bildmaterial: Ausschnitte aus einem Dokumentarfilm zur Kolonialisierungsgeschichte Frankreichs oder der Kindersendung «Bonne Nuit les Petits». So geben die gelöteten Zeichnungen eine komplexe narrative Struktur wieder, die Mikro- und Makrokosmos visuell und inhaltlich miteinander verbindet. Durch die Umrisse der Sternenkonstellation Fische, dem Logo des Zementherstellers Lafarge-Holcim und einer kleinen Wolke rieselt Sand, dessen zaghafte Spur an die Geste des Sandmanns erinnert. Gleichzeitig ruft der Sand in seiner Materialität die globale Herrschaft von Grundstoffimperien sowie die Annäherung unserer Kontinente durch den vom Wind getragenen Mineralstaub auf. In der Ausstellung aktiviert Monika Emmanuelle Kazi verschiedene Zwischenräume, wie jene von Holz und Boden, Vergangenheit und Gegenwart, Wachzustand und Schlaf.
Geboren in Paris, Frankreich, wuchs die Künstlerin zwischen Pointe-Noire in der Republik Kongo und der französischen Hauptstadt auf. Derzeit lebt und arbeitet sie in Genf.
Mit besonderem Dank an den Werkhof der Stadt Rapperswil-Jona und die Hauswarte vom Einkaufszentrum AlbuVille für ihre Unterstützung und Leihe der Weihnachtsbeleuchtung.
Die Ausstellung wird unterstützt von: Stadt Rapperswil-Jona, Kulturförderung Kanton St. Gallen | Swisslos, Ortsgemeinde Rapperswil-Jona, Asuera Stiftung, Oertli-Stiftung und Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung.
Fotos: Gina Folly
Grafik: HOMI