26. Mai bis 4. August 2024

Kunst(Zeug)Haus

PAGE #3: CONCRETE JUNGLE

ANNA SHIRIN SCHNEIDER, CEYLAN ÖZTRÜK, RETO PULFER, SERGIO ROJAS CHAVES, SOPHIE GERMANIER, SOPHIE CONUS, UNA SZEEMANN, VAL MINNIG


«Seit der Aufklärung haben uns die westlichen Philosoph:innen von einer Natur gesprochen, die grossartig und universell, aber auch passiv und mechanisch ist. Natur lieferte die Kulisse und war Quelle für die moralische Intentionalität des Menschen, der sie zugleich zu zähmen und zu beherrschen wusste. Man überliess es den Fabulierenden, den nichtwestlichen, den nicht der Zivilisation verbundenen Geschichtenerzähler:innen, uns an das muntere Tun aller Lebewesen zu erinnern, ob sie nun Menschen waren oder nicht. […] Es ist nun an der Zeit, neue Mittel zu finden, mit denen sich auch jenseits zivilisatorischer Grundprinzipien wahre Geschichten erzählen lassen. Wenn man auf die Trennung von Mensch und Natur verzichtet, können alle Kreaturen wieder am Leben teilhaben und alle können sich ohne die Zwänge einer allzu eng gefassten Rationalität Ausdruck verschaffen. Sobald derartige Geschichten nicht länger in nächtlichem Flüstern erzählt werden müssen, erhalten sie die Chance, als ebenso wahr wie märchenhaft zu erscheinen. Wie sonst sollten wir erklären können, dass trotz des Unheils, das wir angerichtet haben, überhaupt noch etwas am Leben ist?»
Anna Lowenhaupt Tsing, Der Pilz am Ende der Welt: Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, 2018.

Das erste neue Leben, das sich nach der nuklearen Katastrophe in Hiroshima wieder regte, war angeblich ein Pilz, der aus den verseuchten Trümmern der Stadt wuchs. Der Matsutake, einer der wertvollsten Speisepilze Asiens, kommt nicht nur in Japan vor, sondern ist auf der gesamten Nordhalbkugel verbreitet. Dieser Pilz wächst bevorzugt auf von der Industrialisierung verwüsten und ruinierten Böden und ist nicht kultivierbar. In einem «Getümmel» kurzer Kapitel und Geschichten geht die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing den Spuren dieses Pilzes sowie seiner biologischen und kulturellen Verbreitung nach. Damit begibt sie sich auf die Suche nach den Möglichkeiten von Leben in einer vom Menschen zerstörten Umwelt. Sie erzählt von einem komplexen Beziehungsgeflecht, das den Pilz umgibt – einem «kollaborativen» Überleben von Menschen, Pflanzen, Pilzen und anderen Organismen.

Die Lebenswelten von Mensch und Natur sind untrennbar miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. In diesem Sinne stellt die Ausstellung die Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft von Natur und Mensch in den Vordergrund. Künstlerische Auseinandersetzungen mit Neophyten, Schimmelpilzen, tropischen Vögeln, Fabelwesen, Haustieren und weiteren Organismen, die sich mehr oder weniger erwünscht in neuen Lebensräumen ausbreiten, gestalten den menschlichen Lebensraum aktiv mit. Diese Naturphänomene erobern ihren Platz in der Stadt (zurück) und erinnern uns daran, dass urbane Umgebungen nicht isoliert von natürlichen Prozessen existieren, sondern vielmehr ein Teil eines grösseren ökologischen Systems sind.

Als dritter Teil der Ausstellungsreihe «We the Parasites A Playbook to Complicity» widmen sich die Arbeiten von Anna Shirin Schneider, Ceylan Öztrük, Reto Pulfer, Sergio Rojas Chaves, Sophie Germanier, Sophie Conus, Una Szeemann und Val Minnig verschiedenen Strategien des Widerstands und Perspektivenwechsels. Als Leitfaden der Verbundenheit fordert die Ausstellung dazu auf, die Trennung zwischen Mensch und Natur zu überdenken und einen neuen Blick auf unseren städtischen «Betondschungel» zu werfen. So funktionieren die einzelnen Texte zu den Werken als kurze Ausschnitte aus vorhandenen Geschichten und Erzählungen, die aus unterschiedlichen Quellen und Zeiten zusammenkommen. Hier fügen sie sich letztlich zu einem kaleidoskopartigen Zugang zu den acht Kunstschaffenden und deren Arbeiten.

Anna Schirin Schneider
Sie lebten in den Ruinen der alten Welt, hybrid und widerstandsfähig, Symbole für das unerschöpfliche Potenzial der Natur, selbst unter den extremsten Bedingungen zu überleben. […] Diese Kreaturen bewegten sich durch eine Landschaft, die einst von Menschen dominiert und geformt worden war, aber nun wieder der Wildnis gehörte. Die fragmentierten Grenzen zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Menschlichen und dem Natürlichen, wurden in ihrem Dasein sichtbar. Sie waren Zeugen und Teilnehmer einer neuen Ordnung, in der die Natur sich von den Ketten der menschlichen Kontrolle befreit hatte und ihre eigenen Wege ging. In ihren hybriden Formen und widerstandsfähigen Existenzen zeigte sich das unerschöpfliche Potenzial der Natur, sich ständig zu erneuern und zu überleben, selbst in den extremsten und künstlichsten Bedingungen. Diese neue Ordnung war nicht ohne ihre eigenen Herausforderungen und Gefahren, aber sie bot auch eine Art roher, ungezähmter Schönheit. Die Welt, die entstanden war, war eine, in der die Grenzen des Bekannten ständig verschoben wurden und das Unbekannte eine ständige Präsenz hatte. In dieser Welt lebten die Menschen in einem fragilen Gleichgewicht mit den Kreaturen, die sie selbst geschaffen hatten, und lernten, die Lektionen zu respektieren, die die Natur ihnen aufzeigte. Es war eine Welt, in der jede Verbindung, jede Interaktion, eine neue Möglichkeit darstellte, eine neue Geschichte in dem endlosen Gewebe des Lebens.

Margret Attwood
Oryx und Crake
2003

Ceylan Öztrük
The museum is teaching-expressly as part of an education program and an articulated agenda, but also subtly, almost unconsciously, a system of highly political values expressed not only in the style of the presentation but in myriad facets of its operation.

The museum communicates value more concretely in the location of displays, in the building, and in the subtleties of lighting and labels copy. None of these things is neutral. None is overt. All tell the audience what to think beyond what the museum ostensibly is teaching.

Susan Vogel
«Always true to the object, in our fashion»
Exhibiting Cultures: The poetics and politics of museum display, Smithsonian Institution Press, 1991

Reto Pulfer
Flotsch-Knarz!

Die Geheimagenten machen ein Wüstenexperiment.

«Jetzt, da, baut den Konstruktor auf und bringt den Realisator zum Leuchten. Du da, trete zurück, sonst wirst du zu Sand pulverisiert.» Dann knallt es, und ein blaues Licht erschafft ein vierdimensionales Phänomen, dass auf Beinen gehen kann und herumfuchtelt. Es schnaubt, es stiefelt, es büffelt!

«Nein, es verpufft! Zurück ins Labor mit euch. Und ihr, findet diese Macherin!»

Mit einer verschnörkelten Seemuschel am Ohr lauscht sie aus einer deftigen, aber leichtsinnigen Entfernung den Geheimagenten.

«Zum Todesrhizom! Kommt schon, ihr müden Bildschirmschoner! Macht was! Wer nichts macht, der stirbt! Ihr habt nicht umsonst die Apokalypse überlebt!»

Reto Pulfer
Gina, ein zuständiger Roman
Bom Dia Books, 2020

Sergio Rojas Chaves
Der exotische Blick ist eine Perspektive «von der anderen Seite», von ausserhalb und über geo-grafische oder kulturelle Grenzen hinweg. Er ist auf die Aufrechterhaltung von Grenzen angewiesen, damit die kulturelle Differenz und das Gefühl des Erstaunens und der Verwunderung, das sie beim Betrachter hervorruft, erhalten bleiben. Wie ein Käfig, der auf der Suche nach einem Vogel ist, macht der Exotismus Menschen, Objekte und die Natur fremd, während er sie domestiziert. Er produziert tatsächlich Andersartigkeit, obwohl er vorgibt, sich dem ihr innewohnenden Geheimnis und Reiz hinzugeben.

Sergio Rojas Chaves

Sophie Conus
The city was like a vast, decaying organism, its buildings towering above us like the skeletal remains of some ancient, monstrous creature. Every street seemed to lead us deeper into a maze of shadows and despair, where the architecture itself seemed to conspire against us. The walls were covered in graffiti, desperate messages from those who had passed through before us, their cries for help lost in the concrete labyrinth.

As we wandered further, the streets narrowed, pressing in on us with a suffocating closeness. The air was thick with the scent of decay and neglect, a miasma that seemed to seep from the very stones. Abandoned cars, their windows shattered and bodies rusted, stood as silent sentinels, relics of a forgotten time.

[…]

It was here, in this desolate heart, that we truly felt the city’s malevolence. The very ground beneath our feet seemed to pulse with a life of its own, as if the city were aware of our presence and sought to envelop us in its despair. We realized then that escape was not just a matter of finding our way out of the labyrinthine streets, but of freeing ourselves from the grip of the city’s soul-crushing influence.

Kathy Acker
Empire of the Senseless
1994

Una Szeemann
Als wir uns unter dem Eindruck der extrem trockenen und glutheissen Namib-Wüste stehend vergegenwärtigten, dass hier die Temperatur auf der Sandoberfläche bis zu 70°C beträgt, in der Luft immerhin noch 40°C gemessen werden und der jährliche Niederschlag im Jahresdurchschnitt kaum mehr als eher kümmerliche 75 mm erreicht, stellte sich uns unwillkürlich die Frage, wie es die Welwitschia nur schafft, mit ihren riesigen, relativ dünnen Blättern in einer für das menschliche Empfinden so unwirtlichen Landschaft, die zu den trockensten Gebieten der Welt gehört, zu existieren. […] Die Welwitschia ist eine der aussergewöhnlichsten Erscheinungen im ganzen Pflanzenreich. Ihre eigentümlichen morphologischen Merkmale wie auch die äusserst isolierte geographische Verbreitung weisen auf ein immens hohes geologisches Alter hin. So sollen ihre direkten Vorfahren bereits in der Jura- und Kreidezeit gelebt haben, also vor etwa 65 bis 200 Millionen Jahren, als auf der Erde ein subtropisches, feuchtwarmes Klima herrschte und das Leben auf dem Festland von Dinosauriern dominiert wurde. Die Welwitschia wäre damit älter als die Namib-Wüste selbst, die «erst» vor ungefähr 10 bis 65 Millionen Jahren entstanden ist. Leider sind noch keine Fossilien von Welwitschia gefunden worden und somit ist bislang auch unklar, wie sie in vorgeschichtlicher Zeit wohl ausgesehen haben mag und wie man sich ihr damaliges Habitat vorzustellen hat. Vermutlich wird man hierüber auch niemals Gewissheit erhalten. Es darf also spekuliert werden – vielleicht waren ihre Ahnen grösseren Bäumen gleich und wuchsen in den dichten, humiden Koniferenwäldern des Jura; möglich wäre zu dieser Zeit aber auch gewesen, dass sie die weiten, offenen Farnebenen besiedelten, über die mächtige Urzeitkolosse stampften. Das Fehlen von Fossiliennachweisen könnte allerdings ein Hinweis darauf sein, dass die Gattung schon früher ähnliche Biotope besiedelte wie heute; in Trockengebieten ist eine Fossilerhaltung nämlich sehr unwahrscheinlich.

Detlef Schnabel
«Die wundervolle Welwitschia aus der Namib-Wüste»
Kakteen und andere Sukkulenten, Heft 2, Februar 2000

Val Minnig
«I was filming this, and now I am sitting in the dark. wieso English höher alles, vor allem das geplätscher des Brunnens, kein licht einschalten, als hätte ich einen Riesen schiss gemacht, die Fingerspitzen weich, Luft geht weit hinein, denke dass ich eine bessere Kamera brauche, movie, was für einen Monat, ich würd nur diese Aussicht fllmen für einen Monat, gaia telefoniert wieder, herz schlägt schneller, aber mehr Panik, alles ist mir zu laut seit tagen, ich möchte es verinnerlichen wie still es war, aber jetzt telefoniert sie wieder, es hallt, alles hallt, alles ist au stein und glatte kalte Oberflächen, die Kirchen klingen und irgend ein rauschen von einem motor, ich würde gerne über flashsch sprechen, Flashs erzeugen, strudel, Spiralen, Fokus, verlieren, aber kontrolliert, stelle mir Körper vor ineinander, die Luft die tief geht, sehr tief schnell atmend, in Welten eintaucht, Bauchgen die reagieren aber nicht studieren, stelle mir mein Magen vor wie es sich dreht, stelle mir vor wie gross wohl mein herz isch, spüre ein ziehen in der rechten Seite meiner Mastek, spüre meine Ränder der abgerittenen, rissenen, gerupften finger, ohne Nägel, wie es beim tippen der Leertaste zieht, die andern finger tippen von einem besser winkel, versuche abwechselnd mit dem linken daumen zu schlagen, das Putzmittel riecht fest, Telefon ist weg, strudel wieder da, wie toll digitale Bilder mit Vogelschwarm verschwindet, wie ich gerne verschwinden, auflösen, einfach zerfallen, eher verschmelzen, zerschmelzen, abbröslmen, aber noch so wie Maluns, mit halten, Zuckerkörner auf der Oberfläche, wie ein Vulkan ausbröckeln möchte, aber nicht flüssig in der mitte, schön butterfettige Brösel die auch eher laufwarm, nicht heiss sind, keine Hitze löschende Geräusche, nur spröde Brösel, und dann das Gefühl, des Riesen schiss wieder, , , auch wie nach einer darmspühlung, aber wirklich butter gelbe brösel, alle korrekt gleich gross, nicht grosse und kleine, viele, kleine so 3mm, schon fast wie kinetischer sand, und leise fast glasknirschende Gläser, in ganz weiter ferne, langsam, zähbrösmelnd, wie in 14 facher Verlangsamung, und einwenig feuchte Luft vom Butterdunst. Ähnlich wie ein stiller sonnuntergang, der einfach geschieht und kaum Beachtung bekommt, aber bei genaue hingäbe aufwühlend und Stille, bitte mehr, stille, bringt. Die Brösel sind aber auch glatt, halt verschlossen, deshalb das Glasklirren.»

Val Minnig

Sophie Germanier
Performance: Es Meitli het welle z’Tanz goh (von «Der Tüfel a’s Tänzer»)

Konzept / Choreografie: Sophie Germanier
Performance & Co-Choreografie: Jessica Allemann, Dustin Kenel
Kostüm: Dustin Kenel
Sound: Andrea Des, Sophie Germanier
Dramaturgischer Aussenblick: Lan Perces
Co-Produktion: Aux Losange, Gebert Stiftung für Kultur*

Sonntag, 26.05. 14 Uhr
Sonntag, 09.06. 14 Uhr
Samstag, 26.06. 14 Uhr
Kunst(Zeug)Haus

Saalplan mit Programm zur Ausstellung
[Download]

KURATOR*IN wird unterstützt durch Stadt Rapperswil-Jona, Kulturförderung Kanton St. Gallen | Swisslos, Ortsgemeinde Rapperswil-Jona, Asuera Stiftung, Ernst und Olga Gubler-Hablützel Stiftung, Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung und Stiftung Temperatio.

Fotos: Gina Folly & Claude Barrault (Performance)