16. September – 28. Oktober 2018
Alte Fabrik
Forever or in a Hundred Years – Denise Bertschi und Inas Halabi
Die Künstlerinnen Denise Bertschi (*1983, Schweiz, denisebertschi.ch) und Inas Halabi (*1988, Palästina, inashalabi.com) verbindet eine recherchebasierte Praxis, die sich in Videos und Fotografien, in Installationen und Publikationen niederschlägt. Beide entwickeln ausgehend von gesammeltem Material ihre je eigenen Formen der Erzählung, in denen sich das Dokumentarische – traditionell verstanden als unverfälschte Abbildung der Realität, als «die Wahrheit» – aufzulösen beginnt. Auch die Themenfelder der beiden Künstlerinnen überschneiden sich. Während Bertschi seit einigen Jahren die politische Neutralität der Schweiz als unmöglichen Balanceakt entlarvt, untersucht Halabi, wie durch kollektive Erinnerungen und Mythenbildung nationale Identitäten geschaffen werden. Beide Künstlerinnen beschäftigen sich mit Geschichte und Geschichten in einer geografisch und historisch immer enger verflochtenen Welt. In diesem Dickicht suchen sie nach Verstecktem, Geheimem, Übersehenem, Verdrängtem – und zeigen uns ihre Funde in feinsinnigen Arbeiten.
Auf diffuse (zeitliche) Verflechtungen verwies der Titel der Ausstellung Forever or in a Hundred Years. Er ist inspiriert von zwei Zeitangaben, die in Inas Halabis Videoarbeit We Are Champions im Zusammenhang mit der Entsorgung radioaktiver Abfälle eine Rolle spielen: In hundert Jahren soll entschieden werden, ob die Stollen des sich noch in der Evaluationsphase befindlichen geologischen Tiefenlagers in der Schweiz definitiv geschlossen werden sollen. Dann würde der gefährliche Abfall für immer unter der Erde bleiben. So lautet zumindest die Auskunft einer Mitarbeiterin des Atomkraftwerks Gösgen. Hundert Jahre werden Geschichten erfahrungsgemäss über drei Generationen hinweg weitergegeben, bevor sie sich im Nichts verlieren. Diesen hundert Jahren steht die Ewigkeit gegenüber, als Projektionsfläche für alle ausserhalb dieser Zeitspanne möglichen – vergangenen und zukünftigen – Realitäten. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die Arbeiten von Denise Bertschi und Inas Halabi: In ihren Erzählungen schwingt das Latente, Mögliche, das Vergangene und Zukünftige immer mit.
Wenn Denise Bertschi ihre Recherchen zur Rolle der Schweiz auf dem internationalen Parkett der Politik unter dem Motto Neutrality as an Agent vorantreibt, versteht die Künstlerin Neutralität als handlungsleitendes Motiv, das zwiespältig, vermutlich unmöglich, auf jeden Fall aber mehr ein Konzept als Realität ist. Die Neutralität ist also vorgeschoben, sie ist eine Stellvertreterin, eine Mittlerin, die unmögliche Verbindungen möglich macht. Ist sie neben ihrer Rolle als «Agentin» im Sinne einer Handelnden vielleicht auch «Geheimagentin»? Denn daran erinnert der Titel Forever or in a Hundred Years auch: an einen (schlechten) Agentenfilm. Der Geheimagent ist eine zwiespältige und faszinierende Figur, er steht im Dienst eines Auftraggebers und bewegt sich ausserhalb dessen, was erlaubt ist. Wir alle wissen von diesen Agenten, aber wir verdrängen sie und die Machenschaften, in die sie verwickelt sind. Denise Bertschi und Inas Halabi nehmen sich diese Geheimagenten vor und arbeiten gegen kollektive Vedrängungs- und Vergessensprozesse an.
Denise Bertschi zeigte in der Alten Fabrik vier neue Werke, welche die Beziehungen der Schweiz zum Apartheidstaat Südafrika untersuchen. Sie verbrachte Ende 2017 zwecks Recherchen vier Monate in Johannesburg und Kapstadt. Von den Anfängen des Goldhandels in den 1950er-Jahren bis zu den Apartheid-Protesten in den 1980er-Jahren zeigte Bertschi ökonomische und politische Verflechtungen zwischen der Schweiz und Südafrika und und begab sich auf die Suche nach deren Spuren im Heute.
Von Inas Halabi waren zwei Arbeiten zu sehen, die von globalen Ungleichheiten und Machthierarchien handeln. In versehrten und künstlichen Landschaften suchte sie nach den manchmal fast unsichtbaren Spuren dieser Machtarchitekturen. Halabi lässt sich von der Frage leiten, wie und wo radioaktiver Abfall entsorgt wird bzw. werden soll. Wie manifestiert sich dieses weltweit noch immer ungelöste Problem in verschiedenen Kontexten und unter wessen jeweiliger Kontrolle?
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Die Ausstellung wurde unterstützt von:
Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung
Aargauer Kuratorium